Interview Schweizer Monatshefte

Gion Cavelty: Max – ich bin Nichtleser, ich lese nichts. Das habe ich in meinem Buch „Endlich Nichtleser – die beste Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören“ deutlich gemacht. Trotzdem muss ich die literarische Stafette der Schweizer Monatshefte weiterführen. Schwierig.

Max Rüdlinger: Das ist doch nicht schwierig. Du kannst doch über Bücher reden, die du nicht gelesen hast, das mache ich die ganze Zeit. Ich kann mich über Joyce, Musil, Melville stundenlang – gut, vielleicht nicht gerade stundenlang, aber doch ein Interview lang – auslassen, ohne je deren Bücher gelesen zu haben.

Du bist ja nun zum Glück kein Schriftsteller. Bitte falle mir jetzt nicht in den Rücken.

Ja, tatsächlich: Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin aber auch kein Schauspieler. Am liebsten bin ich nichts.

Ich dachte, du seiest freier Schauspieler – und das, weil du meistens frei bist.

Ich bin allerdings starker Leser. Starker Leser, so wie starker Raucher. Mit meinem ersten Sackgeld – fünf Franken – habe ich in Flums in der Papeterie Dulla ein Büchlein gekauft.

Wie rührend. – Aus deiner Feder stammt das im Jahr 2007 erschienene Werk „Das Recht auf Memoiren“. Dabei handelt es sich um deine Autobiographie.

Die unterste Schublade der Schriftstellerei. Truman Capote hat über Jack Kerouac gesagt: Was er vollbracht habe, sei nicht geschrieben, sondern getippt. Bei mir ist es der gleiche Fall. Mir kommt eben selten was in den Sinn. So bin ich dazu gekommen, mein Leben abzutippen.

Dein Buch hat den grossen Vorteil, dass es vergriffen ist. Jedenfalls hatte ich grösste Schwierigkeiten, es zu bekommen – was mich für das Werk hoffnungsvoll stimmte.

Vergriffen ist es nicht – lediglich weit weg abgelegt.

Das tönt jetzt alles nicht danach, als ob es sich irrsinnig gut verkauft hätte.

Sehr gekränkt hat mich, dass es im Orell Füssli in Zürich einen Monat lang auf dem Biographien-Haufen zwischen Simone Niggli-Luder und Lance Armstrong gelegen hat, weil ich auf dem Titelbild als Velofahrer abgebildet bin.

Eventuell hättest du mit einem Satz à la „Mein Name ist nicht Max“ anfangen sollen. Mit so etwas kommt man in der Schweiz gut an.

Da gibt es eventuell einen Berührungspunkt zwischen dir als Nichtleser und mir als starkem Leser: Mit Literatur-Literatur habe ich gar nichts am Hut. Allenfalls hätte ich beginnen können: Ich bin nicht Hans Schenker!

Die Samen in Lappland können ihre Vornamen nach Belieben ändern, sollst du an einer Stelle in deinem Buch geschrieben haben.

Ja, ich habe das an meinem Namen expliziert. Ich glaube ja nicht an die Sprache. Sie ist nicht real. Sie ist lediglich ein soziales Konstrukt zum Behufe der Interaktion und Kommunikation. Real ist hingegen die Lautlichkeit der Buchstabenaneinanderreihung: M – A – X . Die hat sich denn auch in meinen Organismus eingegraben. Wenn du als noch prägbares Kind immer „Max!“ gerufen wirst, erschrickst du jedes Mal. Und die Samen verfügen eben über die Einrichtung, dass wenn ein Kind seinen Namen nicht erträgt und deswegen –  wie zum Beispiel im Falle von „Max“ –  nervöse Störungen entwickelt, dann kann der Name geändert werden. „Ueli“ würde sich da als Sedativ anbieten.

Wie würdest du denn gerne heissen?

Roger

Wo wir schon bei den Samen sind: Was liesse sich sonst noch von ihnen lernen? In der Mitte deines Lebens bist du ja aus Liebeskummer mit dem Velo von Bern bis ans Nordkap gefahren – was ja auch relativ speziell ist.

Liebeskummer, der sich zu einer veritablen Midlife Crisis geweitet hat. Als Hypermotoriker habe ich mein Heil in der Bewegung gesucht.

Von den Samen habe ich nichts weiter gelernt, ausser, dass man den Lappen „Samen“ sagt. Sie sind ja sozusagen die Rätoromanen Schwedens. Kaum jemand  spricht noch Samisch – das ist eine Sprache, die an die Rentierzucht gebunden ist, und Rentiere werden anscheinend keine mehr gezüchtet.

Wenn dein Buch auf Samisch erschienen wäre, hättest du vielleicht mehr Erfolg gehabt.

Kann schon sein. Es ist dort oben dunkler als bei uns, und deswegen lesen die Leute mehr.

Der erste Satz deines Buch soll lauten  – er wurde mir nur vorgelesen: „Auf die Welt kommen, und das in Flums!“ Mehr hätte es möglicherweise gar nicht gebraucht. Die Beklemmung ist total.

Ja, das ist ein sehr guter Satz. Er stammt bezeichnenderweise nicht von mir.

Ausgerechnet.

Ich bin ein ziemlich glücklicher Schriftsteller – ich vergesse ziemlich schnell, wo ich etwas gestohlen habe. Das wird immer besser mit dem Alter. Aber der Satz stammt, wenn ich mich nicht irre, von Andreas Gryphius: „Auf die Welt kommen, und das in Detmold.“

Detmold kling auch recht beklemmend. – Ich frage mich generell, ob man – mit der Lebensbeschreibung von jemand anderem konfrontiert – nicht jedes Mal froh ist, sich selbst zu sein.

Das liegt in der Natur der Sache. Die interessanten Lebensbeschreibungen stammen ja von Leuten, die gerädert, gevierteilt und durch den Kakao gezogen worden sind.

Bücher von Gevierteilten sind selten.

Sei jetzt nicht so begriffsstutzig. Was ich sagen wollte: Nur Bücher von Leuten, die gelitten haben, sind interessant. Lesen heisst, die Leiden anderer schmerzlos – das heisst in Hausjacke und Pantoffeln – nachzuvollziehen. Es will doch niemand Bücher von glücklichen Leuten lesen.

In einem früheren Leben habe ich einmal für die Rubrik „Mein Buch“ in der NZZ über eine Biographie über William Blake geschrieben: „Glücklicherweise habe ich dieses Buch nicht gelesen, denn ich könnte darin ja erfahren, dass Blake an Fusspilz litt oder sogar verrückt war, und das möchte ich nicht. Lieber erhalte ich mir mein eigenes, unverfälschtes Blake-Bild.“ Notabene, weil ich über William Blake gar nichts weiss.

Gut so. Von einem grossen Menschen möchte ich doch nicht wissen, dass er so ist wie ich. Es ist ja auch eine falsche Auffassung von Grösse, zu meinen, ein grosser Mensch habe keinen Fusspilz mehr. Solange du lebst, hast du Fusspilz! Das hat doch nichts zu tun mit der inneren Grösse eines Menschen. In deinem Blake-Bild ist das Beste von Dir drin. Etwas, das dein Blake-Bild übertrifft, hättest du im Buch kaum erfahren.

Das Recht auf Memoiren – wem steht es zu, und warum?

Mein Buch ist in seiner Bedeutung nie wirklich wahrgenommen worden. Es stellt nämlich den demokratischen Durchbruch im Genre des Memoirenschreibens dar. Früher haben nur bedeutende Leute, die ein bedeutendes Leben geführt haben, Memoiren geschrieben. Dann kamen Dieter Bohlen, Lothar Matthäus et cetera. Nach mir kann nun endgültig jeder seine Memoiren schreiben.

Und wer soll das alles lesen? Wie in deinem Fall: deine Mutter und ich? Hat deine Mutter dein Buch überhaupt gelesen?

Jedes Leben ist ein Mysterium, auch das meinige.

Vorhin habe ich mich verraten: Ich habe dein Buch heimlich doch gelesen. Und ich habe es geliebt.

Danke Gion, vielen Dank. Das tut mir gut. Ich bin ja letzthin nicht mit allzu viel Anerkennung überhäuft worden.

Bücher sollten schon gelesen werden, denn diese Buchstabenaneinanderreihungen realisieren sich ja nur im Kopf des Lesers. Ich wollte mich einmal einer Bibliothek andienen, um  nichtgelesene Bücher zu lesen, damit sich deren Inhalt in der Geisteswelt realisiert. Das habe ich dann aber doch nicht gemacht. Was ich aber gemacht habe, ist, dass ich Bücher nach dem Zufallsprinzip ausgeliehen habe. Zuerst habe ich einen englischen Dienstmädchenroman gezogen, das war nicht schlecht. Dann habe ich fünf Mal hintereinander Chemiebücher gezogen, das hat dem Projekt den Garaus gemacht.

Dein Werk liest sich über weite Strecken wie ein Abenteuerroman. Du reist an die abenteuerlichsten Orte der Welt. Zum Beispiel nach Beznau, wo du als Strahlenschutzhilfskontrolleur im Kernkraftwerk arbeitest.

Mühleberg. Ich bin da aber abends so schlapp rausgekommen wie aus irgendeiner Fabrik.

Du bist aber auch Mönch in Burma geworden.

Ja, ich habe eine Affinität zum Mönchischen, aber auch zum Sinnlichen. So habe ich schliesslich auf beiden Gebieten keine dicken Stricke zerrissen.

Du bist ein Meister der Verbindung des Profansten mit dem Höchsten. Zitat (Seite 9): „Die Hühnerfarm bewirtschaftete Martin, einer meiner Onkel. Der hatte ein steifes Bein und einen Töff. Eines Tages hatte er von beidem genug – vom Hühnervieh sowieso – und erschoss sich.“

Das finde ich eine sehr interessante Feststellung, denn vor Zeiten hat mir eine spirituell inspirierte Frau gesagt, dass ich übergangslos vom Höchsten zum Niedrigsten wechseln könne. In One-Man-Shows, die ich für mich geschrieben habe, habe ich immer den Spagat versucht, vom Kalauer zum Philosophem zu wechseln, weil ich gedacht habe, die Fallhöhe sei interessant. Damit bin ich aber regelmässig gescheitert. Das Publikum hat sich jeweils in zwei Teile gespalten: Die einen haben die Kalauer toll gefunden, die anderen das Höchliche. Da hat sich der sowieso geringe Zuschaueraufmarsch dann noch entzweigeteilt, und das Ganze hat sich dann nicht mehr gelohnt.

„Susanne und ich zankten uns durch den ganzen Sudan“ (S. 86). „In Oslo habe ich so viele Munchs gesehen, dass es für mein ganzes Leben reicht“ (S. 236). „Als ich zurückkam, war Esther mit einem Marokkaner verheiratet“ (S. 124). Alles meisterhafte Kurzdramen.

Das freut mich sehr. Weil meine Sätze ja keine Funktion in einer grossen Erzählung haben, müssen sie idealerweise in sich einen Knacks aufweisen, der sie interessant macht.

Trotzdem – bei allen Höhen und Tiefen in deinem Buch – habe ich noch selten bei einer Lektüre so lachen müssen. Dein Freund Polo Hofer schreibt auf der Rückseite des Werks: „Zweifelsohne ist Max einer von uns. Einer allerdings, der meistens eine Gabel in Händen hält, wenn es gerade Suppe regnet“.

Mit „einer von uns“ meint Polo Hofer, einer von uns Tragikomikern. Der Mensch ist ja ein tragisch-komisches Wesen: Tragisch deswegen, weil er das Leben liebt und es trotzdem schlussendlich verliert; er ist dem Leben ausgeliefert, tut aber immer so, als hätte er es im Griff. Aber aus der Distanz gesehen, wirkt das extrem komisch: Wenn einer da auszieht mit einer Gabel in der Hand, um einen Braten zu stechen und unterwegs wird er von einem Suppenregen überrascht. Das ist mein grundlegendes Selbstverständnis.

Du hast in deinem Leben so viel Haarsträubendes angestellt und erlebt, dass man sich, frei nach Richard David Precht, fragen müsste: Wer ist Max, und wenn ja, wie viele?

Mein Name ist Legion – ich habe in meinem Leben keine kohärente Ich-Instanz in mir auffinden können, wie der Name Max Rüdlinger das suggeriert. Ich bin, wie alle Leute, eine Ansammlung widersprechendster Ich-Bestrebungen.

Wie sollen wir leben, Max?

Das Ziel sollte sein, in jedem Moment seines Lebens anwesend zu sein. Ich habe meine ganze Jugend verbracht mit Frauen, die es nicht gegeben hat. Das heisst: Ich war nicht existent. Ich war ja nicht bei den Frauen, die ich mir erträumt habe, ich war aber zugleich auch nicht da, wo ich wirklich war – ich war nirgends. Ich war verloren in meinen Tagträumen … Was habe ich davon geträumt, entscheidende Tore für die Schweizer Fussballnationalmannschaft zu schiessen! Aus allen Lagen, vorzugsweise mit Fallrückziehern. Im Clemens-Klopfenstein-Film „Das Schweigen der Männer“ gibt es zufälligerweise eine geniale Szene, in der Polo und ich auf einem Kamel an einem Weltwunder vorbeireiten, den Pyramiden, und darüber diskutieren, wo es in Bern den besten Wurstsalat gibt. Also: Nicht einmal ein Weltwunder hat bewirken können, dass wir dort anwesend waren.

Ich fand immer die nichtgelesenen Bücher die besten.

Wenn du dein Leben bewusst lebst, dann weisst Du alles, dann brauchst Du auch keine Bücher, gelesen oder nichtgelesen.

Dann musst du aber auch keines schreiben.

Absolut. Ich versuche auch, damit aufzuhören.

Bravo! – Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat aus dem Buch: „Von Ludwig Hohls wenig eleganter, aber solid-präziser Denkarbeits-Prosa war ich hingerissen, ja, eigentlich überwältigt. Ich musste Hohls Bücher beiseitelegen. Und beiseitegelegt blieben sie.“  Max – ich denke, nach der Lektüre deiner Memoiren ist man mit der Welt versöhnt. Danke dafür!

Was für Bücher spricht, ist, dass sie treuer sind als Frauen und nicht aus dem Maul stinken wie Hunde.